Busbahnhof in Mexico City, 7. Mai 2017

… manchmal nehmen Geschichten eine andere Form an als erwartet oder als geplant. Sich auf die natürliche Dynamik des Lebens einzulassen und bereit zu sein, eigene Pläne und Ideen loszulassen bedeutet, dass möglicherweise noch viel schönere und größere Chancen entstehen können. Für mich ergeben sich dann oftmals die Möglichkeiten, die ich nie in Betracht gezogen hätte.

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Mein Name ist Maria und ich betreibe ein kleines Café in Deutschland. Ein Café zu haben, das ist einer meiner ältesten Lebensträume. Bevor ich meinen Traum verwirklicht habe, lebte und arbeitete ich zwei Jahre lang in Mexiko. Es war die Zeit dort, die mich endgültig zu dem Entschluss brachte, mein Café in Deutschland zu eröffnen. Damals besuchte ich die Kaffeeplantage Finca El Pacifico in Oaxaca, um mehr über den Ursprung und den Anbau von Kaffee zu erfahren. Damit Ihr es Euch vorstellen könnt: Es ist ein riesiger verwilderter Wald, in dem die Kaffeesträucher an den steilen Hängen angepflanzt werden. In der Finca, die mitten im Wald liegt, leben die Farmer und dort wird die Ernte gesammelt und weiterverarbeitet.

Bald feiert mein Café zweijähriges Bestehen. Die Gründungs- und Anfangszeit war für mich sehr intensiv. In dieser Zeit habe ich viel über Kaffee, aber noch viel mehr über mich und das Leben gelernt. Vor mehreren Monaten habe ich einen Flug nach Mexiko gebucht – mit dem Ziel, die Kaffeeplantage erneut zu besuchen. Ich wollte dort noch mehr Erfahrungen sammeln, Impressionen einfangen und Rohkaffee einkaufen. All dies sollte ein kleiner, besonderer Schatz für meine Gäste werden. Und auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht machte es für mich Sinn. Es sollte ein neues Alleinstellungsmerkmal für mein Café werden. Doch es kam anders.

Die Reise begann an meinen Lieblingsorten in Mexico City. Es ist eine faszinierende, lebendige und vielfältige Stadt. Die Viertel, in denen ich mich aufhielt, sind durch wunderschöne Straßen mit vielen grünen Bäumen und Pflanzen, bunten Kolonialbauten, schönen und frohen Menschen und vielen einzigartigen Cafés und Bars gekennzeichnet. Das gesamte Leben dort lud dazu ein, von meinem eigenen Café zu träumen. Kein Wunder also, dass ich dort vor drei Jahren mein Vorhaben in schönste und emotionalste Worte fassen konnte. Nach den ersten Tagen in Mexikos Hauptstadt machte ich mich auf die lange Reise zur Kaffeeplantage. Doch dort kam ich nie an. Denn die 17-stündige Busreise brachte mich zunächst nicht in die Kaffeeregion, sondern ans Meer. Ich entschied, zunächst ein paar Tage am Strand zu verweilen. Zipolite, ein Ort am mexikanischen Pazifik, war mein erstes Reiseziel. Ich fühlte mich bei meiner Ankunft sofort wohl. Vielleicht war dies der Grund dafür, dass die Reise dann einen anderen Lauf nahm.

In Zipolite begrüßten mich ein langer, einfacher Sandstrand und hohe Wellen. Für ein idyllisches Postkartenmotiv fehlte zwar der atemberaubende und malerische Palmenstrand, dennoch fesselte mich der Ort. Anfangs wusste ich allerdings nicht, warum. Die Schönheit war nur auf andere Weise zu finden, zu spüren und zu entdecken.

Nachdem ich mental angekommen war und mich auf den Ort eingelassen hatte, merkte ich, dass es um das Nicht-Sichtbare ging. Ich fühlte mich wohl, weil die Einwohner die Gäste mit so viel Herz empfingen und so aufgeschlossen waren.

Es war das menschliche Miteinander und das gegenseitige Vertrauen, das sie dort lebten. Sie waren so zufrieden, obwohl sie nicht viel besaßen. Es war ein Ort des Friedens, obwohl die Menschen so unterschiedlich waren.
 Denn es begegneten sich dort die Hippies und die Spießer.

In meinen Augen war es ein Ort der Freiheit, an dem jeder so sein durfte, wie er war.
 So entstand meine Geschichte über eine Zeit fern von Alltag und Normalität.
 Ich hatte beschlossen, mir die Zeit zu schenken – an genau jenem Ort.

Nach zwei intensiven Jahren im Café wollte ich meiner inneren Stimme lauschen, meine Gedanken wahrnehmen und meinem natürlichen Rhythmus folgen.
 Ich stand auf, wenn ich wach wurde. Ich aß, wenn ich hungrig war. Ich tat das, wonach mir in dem Moment war. Auf diese Weise gab ich mich meinen Bedürfnissen und Wünschen hin. Ich wies sie nicht zurück. Ich hatte so viel Energie, mit der ich Berge versetzen wollte.

Doch als ich spürte, wie frei ich war, als ich merkte, dass ich meinen Tag so bestimmen konnte, wie es für mich gut war, überkam mich eine Angst. Es war die Angst davor, etwas zu verpassen. Mein Kopf sprach zu mir: „Es gibt doch so viele bezaubernde Orte in Mexiko. Willst Du die nicht auch bereisen und entdecken?“ Doch mein Herz fragte mich, ob das Weiterreisen mich glücklicher und zufriedener machen würde. Die Antwort lautete: Nein. Denn ich fühlte bereits unendlich viel Glück und Dankbarkeit. So blieb ich.

Mit einem erfüllten Gefühl machte ich mich eine Woche später wieder auf den Weg. Zu einem Dorf ganz in der Nähe der Kaffeeplantage. Dort wollte ich ein paar Tage bleiben, um im Anschluss zu der Finca zu fahren, auf der die Farmer leben. Doch ich erreichte das Dorf mit keinem guten Gefühl im Bauch. Ich war zurück in der Normalität und die ursprünglichen Reisepläne prallten mit meiner inneren Stimme aufeinander.

Ich nahm das Unwohlsein zur Kenntnis. Doch konnte ich den Auslöser für dieses Gefühl nicht genauer bestimmen. Ich wusste damit nicht umzugehen. Warum auch immer – ich wollte schnellstmöglich nach Mexico City zurück. Ich fühlte mich in dem Moment falsch in diesem neuen Dorf. So aß ich nur noch etwas in dem einzigen Restaurant in der Umgebung, das an der Bundesstraße gelegen war. Anschließend schloss ich mich in meinem Gästezimmer ein, in einer Unterkunft ohne Namen. Mit Anbruch des neuen Tages wollte ich abreisen. Dabei war ich nur noch vier Kilometer von meinem ursprünglichen Ziel, der Finca, entfernt!

Der Besuch der Plantage und mein eigener Kaffee aus Mexiko wären als Geschichte eine Bereicherung für mein Café gewesen. Jedoch nicht entscheidend für meine Existenz. So beschloss ich, nicht auf die Plantage zu fahren und den Plan los zu lassen. Plötzlich spürte ich eine riesige Stärke und ich fühlte mich reicher als je zuvor. In jenem Moment wurde mir der wahre Wert der Reise bewusst. Ich hatte etwas viel Essentielleres für mein Leben gelernt. Ich hatte gelernt, mich selbst zu hören und anzunehmen. Ich hatte erfahren, was tiefe Selbstachtung bedeutet. Denn ich hatte auf meine Gefühle und meine Bedürfnisse gehört und sie angenommen.

Es ist genau das, was in Zipolite, dem Ort am Pazifik, gelebt wird. Das, was es zu diesem spürbaren Paradies macht. Die Menschen sind zufrieden, weil sie sich achten. Für mich war und ist es das schönste Juwel, das ich gefunden habe. Glaubt nicht, dass ich mich nicht auf den Besuch der Plantage gefreut hatte. Damals, bei meinem ersten Besuch, war es für mich ein überwältigendes Gefühl, in der Wildnis der Höhenlagen Mexikos zu stehen, über die Berge hinweg zu blicken und von Kaffeesträuchern umgeben zu sein. Auch die warmherzige Gastfreundschaft der Farmerfamilie hatte mich damals sehr bewegt. Der Farmer ist auf eine so faszinierende Weise mit der Natur verbunden, dass ich liebend gern mehr von seinem Wissen erfahren hätte. Aber wer weiß, ob mir der Wert und die Bedeutung der Selbstachtung tatsächlich bewusst geworden wären, wenn ich an meinen Plänen festgehalten hätte.

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Gerade sitze ich am Busbahnhof in Mexico City und warte auf einen Reisebus, der in zwei Stunden eintreffen müsste. Der Moment des Wartens ist in unterschiedlicher Hinsicht ein Geschenk. Er hat mich dazu bewegt, die für mich viel schönere Geschichte der Reise in Worte zu fassen. Aber nicht nur ihren ersten Teil, es gibt noch einen zweiten. Heute Morgen, bei meiner Abreise aus dem kleinen Dorf in der Kaffeeregion, hatte ich in dem einzigen Restaurant dort mein Gastgeschenk für die Finca und 50 Euro hinterlassen. Meine Hoffnung war, dass mir die Farmerfamilie ein wenig Kaffee nach Deutschland schicken würden. Auch hier kam es anders. Obwohl heute Sonntag ist, ist die Familie ein paar Stunden nach meiner Abreise zum Busbahnhof gefahren. Fünf Kilogramm Rohkaffee haben sie mir mit einem Reisebus hinterhergeschickt. Der Bus müsste in wenigen Stunden eintreffen. Und dann werde ich hoffentlich gleich zwei Schätze in den Händen halten: meine Geschichte und etwas Rohkaffee.

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Wie geht es weiter?

Während der Gründungszeit meines Cafés habe ich Fabian, einen Kaffeeröster und ebenfalls Café-Betreiber aus Hamburg, kennengelernt. Um mich in die Café-Welt hinein zu fühlen, bat ich ihn, mir einen Tag lang alles Mögliche rund um den Kaffee und die Kaffeezubereitung zu zeigen. Ich durfte viele Fragen stellen und er war mir ein großer Unterstützer. Mittlerweile ist seine Rösterei in Oberstdorf zu finden. Fabian wird mir meine fünf Kilogramm Rohkaffee rösten. Am liebsten würde ich den Kaffee persönlich zu ihm bringen, um beim Rösten dabei zu sein. Ich lasse mich überraschen, ob ich mir die Zeit dafür geben werde.

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Bielefeld, November 2017

In diesen Tagen wird sich mein Rohkaffee auf die Reise zu Fabian begeben. Was ich aus diesem kleinen Schatz machen werde, weiß ich noch nicht. Jedoch wird sich die Antwort darauf bald zeigen, das ist gewiss. Viel eher wird mir bereits klar, dass diese geschriebene Geschichte nur die Einleitung einer langen Geschichte war. Sie hat bereits einen Titel und die ersten Seiten habe ich bereits mit Worten gefüllt. Mich bringt sie jetzt schon zum Lächeln.